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Verspätungsvorschriften

I.

Überblick

 

1. Ausgangsfall:

 

Der Kläger erhebt eine schlüssige Klage vor dem Landgericht; zu den klagebegründenden Tatsachen bietet er jeweils Sachverständigenbeweis an. Der Kammervorsitzende ordnet das schriftliche Vorverfahren an und setzt dem Beklagten neben der Notfrist zur Verteidigungsanzeige eine Frist zur Erwiderung auf die Klage von drei Wochen (vgl. § 276 Abs. 1 Satz 2 ZPO). Der Beklagte zeigt seine Verteidigungsbereitschaft fristgemäß an. Innerhalb der am 10. März ablaufenden Klageerwiderungsfrist geht jedoch keine Klageerwiderung ein. Daraufhin bestimmt der Vorsitzende den Haupttermin zur mündlichen Verhandlung auf den 10. Juni. Am 9. Juni geht per Fax die Klageerwiderung des Beklagten ein, in der dieser den klagebegründenden Vortrag des Klägers im einzelnen bestreitet. Muß die Kammer dieses Bestreiten berücksichtigen?

 

 

2. Sinn und Zweck der Verspätungsvorschriften

 

Der durch die Vereinfachungsnovelle erst 1976 eingefügte § 296 ZPO will ebenso wie die entsprechende Vorschrift im Berufungsrecht, § 528 ZPO , verhindern, daß die Parteien unter Verletzung ihrer Mitwirkungspflichten verspätet vortragen oder Tatsachenbehauptungen nachschieben und so die Beendigung des Prozesses verzögern. Diese Vorschriften erlauben deshalb unter bestimmten Voraussetzungen die Zurückweisung solchen Vorbringens. Umgekehrt möchte die Vorschrift durch ihren Sanktionscharakter zu einem möglichst frühzeitigen und deshalb von einer Zurückweisung nicht bedrohten Tatsachenvortrag anhalten. Zweck der Präklusionsvorschrift ist folglich die Prozeßbeschleunigung (vgl. Musielak/Huber, ZPO,
§ 296 Rn. 1).

 

Präklusionsvorschriften haben allerdings, weil sie das Grundrecht auf rechtliches Gehör einschränken, sich zwangsläufig nachteilig auf das Bemühen um eine materiell richtige Entscheidung auswirken und für die säumige Partei einschneidende Folgen nach sich ziehen, strengen Ausnahmecharakter. Ihre Anwendung steht in ganz besonderem Maße unter dem Gebot der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit (vgl. BGH NJW 1990, 2389).

 

 

3. Die wichtigsten Tatbestände

 

Zu unterscheiden sind folgende Fälle:

     

    (1) Angriffs- oder Verteidigungsmittel werden erst nach Schluß der mündlichen Verhandlung vorgebracht:

     

    § 296a ZPO (also kein Fall der Verspätungsvorschriften §§ 296, 528 ZPO, die nur für Vorbringen bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung gelten)

     

      also: keine Berücksichtigung, es sei denn, die mündliche Verhandlung wird wiedereröffnet (§ 156 ZPO).

     

     

    (2a) Angriffs- oder Verteidigungsmittel werden zwar bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung, aber erst nach Ablauf einer hierfür gesetzten richterlichen Frist vorgebracht:

     

     § 296 Abs. 1 ZPO

     

      also: Zulassung nur, wenn diese nach freier Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits nicht verzögern würde oder die Verspätung genügend entschuldigt ist. Ansonsten: zwingende Zurückweisung.

     

     

    (2b) Angriffs- oder Verteidigungsmittel werden zwar bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung vorgebracht, aber entgegen § 282 Abs. 1 oder 2 ZPO, d.h. unter Verletzung der allgemeinen Prozeßförderungspflicht, nicht rechtzeitig:

     

     § 296 Abs. 2 ZPO

     

      also: Zurückweisung steht im Ermessen des Gerichts, wenn das neue Vorbringen nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und die Verspätung auf grober Nachlässigkeit beruht. Ansonsten, d.h. wenn entweder keine Verzögerung oder keine grobe Nachlässigkeit vorliegen: zwingende Zulassung.

 

 

    (2c) Verspätete verzichtbare Zulässigkeitsrügen (z.B. fehlende Ausländersicherheit, §§ 110 ff. ZPO, fehlende Kostenerstattung, § 269 Abs. 4 ZPO; nicht aber: die von Amts wegen zu beachtenden Zulässigkeitsvoraussetzungen) sind nach § 296 Abs. 3 ZPO nur bei genügender Entschuldigung der Verspätung zuzulassen; auf eine Verzögerung des Rechtsstreits kommt es insoweit nicht an.

     

    (3) In der Berufungsinstanz gilt für die Versäumung richterlichen Fristen in der ersten Instanz der dem § 296 Abs. 1 ZPO entsprechende § 528 Abs. 1 ZPO, für Verstöße gegen die allgemeine Prozeßförderungspflicht in erster Instanz der dem § 296 Abs. 2 ZPO entsprechende § 528 Abs. 2 ZPO und für verzichtbare Zulässigkeitsrügen § 529 ZPO. Ferner ist § 527 ZPO zu beachten, über den § 296 Abs. 1 ZPO entsprechend angewendet werden kann. Praktisch wichtig ist § 528 Abs. 3 ZPO: Danach bleiben Angriffs- und Verteidigungsmittel, die in erster Instanz zu Recht zurückgewiesen worden sind, auch in der zweiten Instanz ausgeschlossen. Dies kann in der Praxis für den Rechtsanwalt zur Prozeßtaktik der “Flucht in die Berufung” führen (dazu unten mehr).

 

Die – in der Praxis häufig anzutreffende – “Rüge” der Verspätung gegnerischen Vorbringens ist nicht erforderlich . Das Gericht hat das Parteivorbringen von Amts wegen auf seine Berücksichtigungsfähigkeit nach den §§ 296, 528 ZPO zu prüfen; rügeloses Einlassen (§ 295 Abs. 1 ZPO) kann die Verspätung daher nicht heilen (vgl. § 295 Abs. 2 ZPO). Umgekehrt reicht die bloße Rüge gegnerischen Vorbringens als verspätet aber auch nicht aus, um die Nichtberücksichtigung zu erreichen. Bleibt das neue Vorbringen nämlich unstreitig, wird es auch nicht geeignet sein, den Rechtsstreit zu verzögern (s.u.).

 

 

II.

Darstellung im Tatbestand

 

Sind in einer Klausur die Verspätungsvorschriften zu prüfen, etwa, weil eine Partei mit vorgebrachten Angriffs- und Verteidigungsmitteln eine richterliche Frist nicht eingehalten hat oder auch nur, weil die Parteien im Sachverhalt auf Verspätungsfragen eingehen, sollten die relevanten Daten bereits im Tatbestand mitgeteilt werden, allerdings noch ohne Wertungen wie “verspätet” o.ä. Im Ausgangsfall mag der Tatbestand auszugsweise etwa lauten:

 

“Der Beklagte beantragt,

 

       die Klage abzuweisen.

 

Er ist der Ansicht, (...). Ferner bestreitet er, (...).

 

Der das Bestreiten des Beklagten enthaltende Klageerwiderungsschriftsatz ist, nachdem der Vorsitzende der Kammer dem Beklagten mit am 17. Februar (...) zugestellter Verfügung eine dreiwöchige Klageerwiderungsfrist gesetzt hatte, am 9. Juni (...), dem der mündlichen Verhandlung vorangehenden Tag, bei Gericht eingegangen. Der Kläger hat für seine Behauptungen (...) Beweis durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens angeboten.”

 

 

III.

Die Verspätungsvorschriften § 296 Abs. 1 und 2 ZPO im einzelnen

 

1. § 296 Abs. 1 ZPO: Angriffs- oder Verteidigungsmittel nach Ablauf richterlicher Fristen

 

§ 296 Abs. 1 ZPO erfaßt Angriffs- und Verteidigungsmittel, die erst nach Ablauf einer hierfür gesetzten Frist, aber noch vor Schluß der mündlichen Verhandlung (sonst: § 296a ZPO) vorgebracht worden sind. Sie sind nur zuzulassen, wenn dadurch keine Verzögerung eintritt oder die Verspätung genügend entschuldigt wird. Bei schuldhafter und verfahrensverzögernder Mißachtung der richterlichen Fristen muß folglich das Vorbringen zwingend zurückgewiesen werden. Die betroffene Partei kann allerdings mit prozeßtaktischen Mitteln versuchen, den drohenden Folgen einer Präklusion zu entgehen.

 

a) Angriffs- und Verteidigungsmittel

 

Was unter Angriffs- und Verteidigungsmitteln zu verstehen ist, ergibt sich beispielhaft aus § 282 Abs. 1 ZPO: Es handelt sich insbesondere um Behauptungen, Bestreiten, Einwendungen, Einreden, Beweismittel und Beweiseinreden; ferner kommen auch die Erklärung einer Aufrechnung oder die Bezugnahme auf eine früher erklärte Aufrechnung in Betracht.

 

Hinsichtlich des praktisch bedeutsamen Falles der Beweisantritte ist zu beachten, daß diese zwar typische Angriffs- und Verteidigungsmittel darstellen, aber dennoch nicht ohne weiteres nach § 296 Abs. 1 ZPO zurückgewiesen werden können. Steht der Beweisaufnahme nämlich ein behebbares Hindernis entgegen, etwa, weil die Anschrift des benannten Zeugen unvollständig oder falsch ist, geht die Spezialregelung des § 356 ZPO dem § 296 ZPO vor (vgl. BGH NJW 1993, 1926; Musielak/Huber, ZPO, § 296 Rn. 4): Danach ist das Gericht erst dann berechtigt, von einer Beweiserhebung abzusehen, wenn es zur Behebung des Hindernisses fruchtlos eine Frist gesetzt hat und nach seiner freien Überzeugung die später mögliche Berücksichtigung des Beweismittels das Verfahren verzögern würde. Ein etwa erst nach Ablauf der Klageerwiderungsfrist, bis zu der der Beklagte die Anschrift seines namentlich benannten Zeugen noch nicht angegeben hatte, vervollständigter Zeugenbeweisantritt kann nicht zurückgewiesen werden. Vielmehr hätte das Gericht dem Beklagten nach Eingang der Klageerwiderung gemäß § 356 ZPO durch Beschluß unter Belehrung über die Folgen einer Fristversäumung eine Frist zur Beibringung der Anschrift des Zeugen setzen und deren Ablauf abwarten müssen.

 

Keine Angriff- oder Verteidigungsmittel sind:

 

- der Angriff und die Verteidigung selbst, also Sachanträge wie Klageänderung, Klageerweiterung, Erledigterklärung, Widerklage oder der Berufungsantrag;

 

- Prozeßanträge, z.B. auf Vertagung oder Fristverlängerung;

 

- von Amts wegen zu beachtende Zulässigkeitsrügen;

 

- Rechtsansichten .

 

 

b) Nach Ablauf einer richterlichen Frist

 

Gemeint sind nur die in § 296 Abs. 1 ZPO abschließend aufgezählten richterlichen Fristen.

 

aa) Wird früher erster Termin bestimmt, so sind das die Frist zur vor diesem Termin einzureichenden Klageerwiderung (§ 275 Abs. 1 S. 1 ZPO), die im frühen ersten Termin gesetzte Klageerwiderungsfrist (§ 275 Abs. 3 ZPO) und die Frist zur schriftlichen Stellungnahme auf die Klageerwiderung (Replik, § 275 Abs. 4 ZPO). Zuständig ist im zuerst genannten Fall der Vorsitzende, sonst das Gericht. Das gilt bei § 275 Abs. 3 ZPO auch, wenn die Frist nicht im Termin, sondern außerhalb der Verhandlung nach Eingang der Klageerwiderung gesetzt wird (vgl. Musielak/Huber a.a.O., § 296 Rn. 7).

 

Wird das schriftliche Vorverfahren angeordnet, so sind das die Frist zur Klageerwiderung
(§ 276 Abs. 1 S. 2 ZPO) und die zur schriftlichen Stellungnahme auf die Klageerwiderung (Replik, § 276 Abs. 3 ZPO); zuständig für die Fristsetzung ist jeweils der Vorsitzende.

 

In beiden Verfahrensarten kommt außerdem eine Fristsetzung zur Ergänzung oder Erläuterung sowie zur Vorlegung von Urkunden oder Gegenständen in Betracht (§ 273 Abs. 2 Nr. 1 ZPO; zuständig ist der Vorsitzende).

 

§ 296 Abs. 1 ZPO ist ferner in den Fällen anwendbar, in denen das Gesetz auf diese Vorschrift verweist, etwa bei der Einspruchsbegründungsfrist (vgl. § 340 Abs. 3 Satz 3 ZPO) oder bei der Frist zur Stellungnahme auf ein Sachverständigengutachten (vgl. § 411 Abs. 4 Satz 2 ZPO). Darüber hinaus kommt eine analoge Anwendung auf die Versäumung anderer Fristen nicht in Betracht.

 

bb) Nur eine wirksam gesetzte Frist löst die Folgen des § 296 ZPO aus. Mängel können nicht geheilt werden.

 

Zwingend erforderlich ist (vgl. Musielak/Huber a.a.O., § 296 Rn. 11):

 

- die Beachtung der Zuständigkeitsregeln zwischen Gericht und Vorsitzendem (s. dazu jeweils oben); setzt also der Vorsitzende oder ein anderes Kammermitglied eine Frist, deren Setzung der Kammer (die dann durch Beschluß entscheidet) vorbehalten ist, ist diese Fristsetzung nicht wirksam, so daß eine Präklusion von nach Ablauf dieser Frist eingehendem Vortrag nicht in Betracht kommt; ebenso ist eine Fristsetzung durch den Berichterstatter oder ein anderes Mitglied der Kammer, außer im Vertretungsfalle, unzulässig und führt zur Unwirksamkeit der Fristsetzung (vgl. BGH NJW 1991, 2774),

 

- eine Unterschrift der Verfügung oder des Beschlusses mit vollem Namen, also nicht nur mit Handzeichen (Paraphe; vgl. BGHZ 76, 236),

 

- die wirksame förmliche Zustellung einer beglaubigten Abschrift der Verfügung oder des Beschlusses, die die Fristsetzung enthalten (§ 329 Abs. 2 S. 2 ZPO; vgl. BGH NJW 1990, 2389); dies gilt übrigens nicht für eine Verfügung oder einen Beschluß, durch den eine Frist lediglich verlängert wird (vgl. BGH NJW 1990, 2389),

 

- eine Belehrung über die Folgen einer Versäumung der Frist, soweit gesetzlich vorgeschrieben (§§ 276 Abs. 2, 277 Abs. 2, 277 Abs. 4 ZPO); diese Belehrung darf sich nicht in der bloßen Wiederholung des gesetzlichen Wortlauts erschöpfen (vgl. BGHZ 86, 218), sondern muß allgemein verständlich sein, außer der Beklagte ist selbst Rechtsanwalt (vgl. BGH NJW 1991, 493),

 

- eine klare Fristsetzung (vgl. BVerfG NJW 1982, 1453; BGH NJW 1990, 2389), wobei der Beginn der Frist schon bei der Anordnung feststehen und für die Partei eindeutig erkennbar sein muß,

 

- in Fällen der Klageerwiderung eine angemessene Klageerwiderungsfrist (vgl. BGH NJW 1994, 736), weshalb der Richter vor der Fristsetzung die tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten der Sache sorgfältig bedenken muß, auch ob die Partei anwaltschaftlich vertreten ist; bei umfangreichem Sachverhalt, der voraussichtlich nicht ohne Hilfe eines Sachverständigen aufzuklären sein wird, genügt die gesetzliche Mindestfrist (§§ 276 Abs. 1 S. 2, 277 Abs. 3 ZPO) nicht (vgl. Musielak/Huber a.a.O., § 296 Rn. 11).

 

 

c) Verzögerung des Rechtsstreits

 

Den Eintritt der Verzögerung beurteilt das Gericht nach freier Überzeugung bezogen auf den Zeitpunkt des Vorbringens; das ist bei schriftlichem Vortrag der Eingang des Schriftsatzes, bei mündlichem Vorbringen die Abgabe der Erklärung im Termin.

 

 

aa) Verzögerungsbegriff

 

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (vgl. BGHZ 86, 31; BGHZ 5, 138) und der überwiegenden Ansicht im Schrifttum (vgl. T/P 296/14; Musielak/Huber a.a.O., § 296 Rn. 13) gilt der absolute Verzögerungsbegriff.

 

    Danach kommt es ausschließlich darauf an, ob der Rechtsstreit bei Zulassung des verspäteten Vorbringens länger dauern würde als bei dessen Zurückweisung.

 

Feststellungen dazu sind unzweifelhaft zu treffen, weil bei Zurückweisung das Verfahren in aller Regel sofort beendet werden kann, während bei Zulassung ein weiterer Termin erforderlich würde. Unerheblich ist demgegenüber grundsätzlich, ob der Prozeß bei rechtzeitigem Vorbringen früher geendet als oder wenigstens genauso lange gedauert hätte wie bei Berücksichtigung des verspäteten Vortrags (so der relative Verzögerungsbegriff). Allerdings ist zu beachten, daß das BVerfG (vgl. BVerfGE 75, 302) den absoluten Verzögerungsbegriff zwar grundsätzlich mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör für vereinbar hält, aber den Standpunkt vertritt, die Präklusion verspäteten Vorbringens dürfe nicht zu einer ohne weiteres erkennbaren Überbeschleunigung eines ungeachtet der Verspätung zeitaufwendigen Verfahrens führen. Eine Präklusion sei also unzulässig, wenn sich ohne weitere Erwägung aufdrängt, daß das Verfahren damit früher beendet wird, als das bei einem ungestörten Verlauf des Verfahrens zu erwarten war (vgl. dazu auch Zöller/Greger a.a.O.,
§ 296 Rn. 22).

 

 

bb) Voraussetzungen der Verzögerung

 

Wichtig: Nur erhebliches, streitiges und beweisbedürftiges Vorbringen kann einen Rechtsstreit verzögern. Das ergibt sich zwangslos aus dem Relationsschema:

 

- Der verspätete Vortrag bleibt – ggf. nach der dann gemäß § 283 ZPO einzuräumenden Schriftsatzfrist – unstreitig:

 

    eine Verzögerung ist ausgeschlossen, da unstreitiger Vortrag nicht beweisbedürftig sein, also keinen neuen Verhandlungstermin verursachen kann.

 

- Der Kläger trägt verspätet und streitig vor, das verspätete Vorbringen macht seine zuvor bereits unschlüssige Klage aber nicht schlüssig:

     

    Berücksichtigung des neuen Vorbringens verzögert nicht, da der Rechtsstreit entscheidungsreif und die Klage abweisungsreif bleibt (war die Klage vorher schlüssig, schadet verspätetes unschlüssiges Vorbringen natürlich auch nicht, kann aber ebenfalls nicht verzögern).

 

- Verspätet vorgebrachte streitige Verteidigungsmittel des Beklagten gegen die Klage sind unerheblich:

 

    Berücksichtigung des neuen Vorbringens verzögert nicht, da der Rechtsstreit entweder entscheidungsreif bleibt (auch die übrige, rechtzeitige Verteidigung war unerheblich) oder ohnehin Beweis zu erheben ist.

 

- Die Klage ist schlüssig und die Verteidigung erheblich. Die beweispflichtige Partei tritt für ihre streitigen, erheblichen Behauptungen aber keinen Beweis an oder der Beweis ist bereits vollständig erhoben:

 

    Berücksichtigung des neuen Vorbringens verzögert nicht, da der Rechtsstreit entscheidungsreif bleibt.

 

Eine Verzögerung kommt also nur bei noch nicht entscheidungsreifen Prozessen in Betracht, wenn das Gericht nicht ohnehin einen neuen Termin anberaumen muß – etwa weil weitere Aufklärung oder eine Beweisaufnahme bereits durch den nicht verspäteten Vortrag geboten ist – und

 

- die nachlässige Partei Beweis anbietet, der zwar zu erheben ist, im Haupttermin aber auch über § 273 Abs. 2 ZPO nicht erhoben werden kann oder

 

- der Gegner zu dem verspäteten Vorbringen seinerseits Beweis anbietet, der zwar zu erheben ist, im Haupttermin aber auch über § 273 Abs. 2 ZPO nicht erhoben werden kann (vgl. Schellhammer, Die Arbeitsmethode des Zivilrichters, 11. Aufl., Rn. 453).

 

Also: Verspätetes Vorbringen muß streitig, beweisbedürftig und entscheidungserheblich sein. Gleichwohl verzögert es nicht, wenn der Rechtsstreit weder bei Zulassung noch bei Zurückweisung entscheidungsreif wäre (vgl. BGH NJW-RR 1989, 786).

 

Die Anwendung der Präklusionsvorschriften setzt im übrigen Entscheidungsreife des gesamten Rechtsstreits voraus. Angriffs- und Verteidigungsmittel dürfen daher nicht durch Teilurteil (§ 301 ZPO) zurückgewiesen werden (vgl. BGHZ 77, 306); dementsprechend dürfen bei Klage und Widerklage, die miteinander in Sachzusammenhang stehen müssen (§ 33 Abs. 1 ZPO), verspätete Angriffs- und Verteidigungsmittel nicht durch ein allein die Klage oder die Widerklage betreffendes Teilurteil zurückgewiesen werden (vgl. BGH NJW 1981, 1217). Statthaft ist aber eine Zurückweisung verspäteten Vorbringens im Grundurteil (§ 304), denn der Streit zum Anspruchsgrund betrifft diesen Verfahrensabschnitt im ganzen (vgl. BGH WM 1979, 918).

 

Keine Verzögerung tritt ein, wenn die unverzügliche Fortsetzung der Beweisaufnahme möglich ist, also etwa der verspätet angebotene Zeuge zum Verhandlungstermin mitgebracht wird oder der anwesende Sachverständige zu weiteren bisher nicht behaupteten Mängeln befragt werden soll. Anders liegen die Dinge natürlich, wenn die Zulassung dieses Vorbringens zu einem weiteren Termin zwingt, z.B. nun die Vernehmung nicht präsenter Gegenzeugen erforderlich wird (vgl. BGH NJW 1982, 1535) oder der Sachverständige die an ihn gerichteten Fragen nicht ohne neue Ortsbesichtigung oder Untersuchungen beantworten kann (vgl. Musielak/Huber a.a.O., § 296 Rn. 22). Entsprechendes gilt, wenn beim Nachweis der verspäteten Tatsache – z.B. der Rechtzeitigkeit einer Mängelrüge (§ 377 Abs. 2 HGB) – andere unter Beweis gestellte Behauptungen – z.B. die Mangelfreiheit der Sache – entscheidungserheblich würden und für die Erhebung dieser Folgebeweise ein neuer Termin anberaumt werden müßte (vgl. BGHZ 86, 189). Auf eine zweistufige Beweisaufnahme braucht sich das Gericht nicht einzulassen (vgl. BVerfGE 81, 264).

 

Kann der Gegner auf ein verspätetes Vorbringen erst in einem nachgelassenen Schriftsatz
(§ 283 ZPO) Stellung nehmen, so bewirkt das alleine keine Verzögerung, selbst wenn ein schon vorgesehener Verkündungstermin hinausgeschoben werden muß. Diese nachgeholte Erklärung dient nämlich erst als Vorbereitung der vom Gericht zu treffenden Entscheidung, ob der Rechtsstreit durch Berücksichtigung des verspäteten Vorbringens verzögert würde. Das wäre nicht der Fall, wenn der Gegner den Vortrag nicht bestreiten wollte, so daß er zur Grundlage der Sachentscheidung gemacht werden könnte (vgl. BGHZ 94, 195, 213).

 

 

cc) Einschränkungen des absoluten Verzögerungsbegriffes

 

Die Anwendung des absoluten Verzögerungsbegriffs verstößt - wie das BVerfG mehrfach entschieden hat - nicht gegen Art. 103 Abs. 1 GG, sofern die betroffene Partei ausreichend Gelegenheit hatte, sich zu allen für sie wichtigen Punkten zur Sache zu äußern, dies aber aus von ihr zu vertretenden Gründen versäumt hat. Das setzt allerdings nach dem Normzweck auch voraus, daß der Richter die ihm obliegenden Pflichten zur umfassenden Vorbereitung der mündlichen Verhandlung und prozeßfördernden Verfahrensleitung erfüllt. Kommt er dem nicht nach, besteht ein Zurückweisungshindernis. Schließlich darf verspätetes Vorbringen bei offensichtlich fehlender Ursächlichkeit für die Verzögerung nicht ausgeschlossen werden. Besonderheiten gelten im frühen ersten Termin.

 

(1) Die Anwendung der Präklusionsvorschrift ist rechtsmißbräuchlich, wenn der Richter durch unzureichende Verfahrensleitung, unzulängliche Terminsvorbereitung oder Verletzung der gerichtlichen Fürsorgepflicht die Verzögerung mitverursacht (vgl. Musielak/Huber a.a.O., § 296 Rn. 15). Verspätetes Vorbringen muß deshalb zugelassen werden, wenn eine Verzögerung durch zumutbare Maßnahmen bei der Terminsvorbereitung abgewendet werden kann oder das fehlerhaft unterlassen wurde (vgl. BVerfGE 81, 264; BVerfG NJW-RR 1995, 377; BGHZ 91, 293; BGH NJW 1996, 528). Zumutbar sind vorbereitende Anordnungen gemäß § 273 ZPO, wenn es sich um einfache und klar abgrenzbare Streitpunkte handelt, die ohne unangemessenen Zeitaufwand geklärt werden können (vgl. BGH NJW 1996, 528; T/P 296/9).

 

Beispiele:

 

- Trotz verspätet eingereichtem Tatsachenvortrag wäre die Beweiserhebung in der mündlichen Verhandlung bei gehöriger Terminsvorbereitung möglich (vgl. BGH NJW 1996, 528);

 

- die verspätet benannten Zeugen sind kurzfristig greifbar (vgl. BGH NJW 1991, 1181), unter Umständen auch durch Telefon oder Fax; falls nicht, ist der Prozeßbevollmächtigte aufzufordern, die nicht mehr ladbaren Zeugen im Termin zu stellen (vgl. BGH NJW 1980, 1848);

 

- Vernehmung von vier bis sechs statt einem Zeugen zu einem eingegrenzten Beweisthema (vgl. BVerfGE 81, 264; BGH NJW 1991, 2759).

 

Hat der Richter von vornherein zu wenig Zeit für den Termin eingeplant, so darf er sich später nicht auf die von ihm selbst geschaffene Terminslage zurückziehen (vgl. BVerfG NJW 1992, 299). Nach der Rechtsprechung des BGH hält sich ein Gericht nicht im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens, wenn es die Sitzungstage allgemein so belastet und die Zeit für die Verhandlung der einzelnen Sachen so eng bemißt, daß es sich damit die Vernehmung eines Zeugen von vornherein unmöglich macht und alsdann mit dieser Verfahrensweise die Nichtzulassung des Beweismittels begründet (BGH NJW 1974, 1512; BGH NJW 1991, 1181). Die Zumutbarkeit des mit einer Zeugenvernehmung verbundenen Aufwandes richtet sich unter anderem nach der Zeit, welche für die Terminsvorbereitung zur Verfügung steht. Bei langfristiger Terminsbestimmung kann und muß auch eine Verhandlungsdauer eingeplant werden, die die Vernehmung mehrerer Zeugen zuläßt (BVerfGE 81, 264; BGH WM 1985, 819; BGH NJW 1991, 1181).

 

Kommt beispielsweise der Beklagte einer Auflage nicht nach, Vorschüsse für die Ladung der angebotenen Zeugen einzuzahlen, sondern läßt im Haupttermin ein Versäumnisurteil gegen sich ergehen, so muß das Gericht nach Einspruch damit rechnen, daß die Vorschußzahlung noch rechtzeitig vor dem gemäß § 341a bestimmten Termin nachgeholt oder die Zeugen – dann kann die Vernehmung ebenfalls nicht abgelehnt werden, vgl. T/P 379/6 – zum Termin “sistiert”, d.h. vom Beklagten mitgebracht werden, weshalb für diese Verhandlung ausreichend Zeit vorzusehen ist.

 

(2) Verspätetes Vorbringen darf nicht unberücksichtigt bleiben, wenn ohne jeden Aufwand erkennbar ist, daß die Pflichtwidrigkeit - die Verspätung allein - nicht kausal für eine Verzögerung ist (vgl. BVerfGE 75, 302; BVerfG NJW 1995, 1417).

 

Beispiel (nach BVerfG NJW 1995, 1417): Der Beklagte legt rechtzeitig Einspruch gegen ein Versäumnisurteil ein, reicht jedoch die Einspruchsbegründung mit Beweisantritt (§ 340 Abs. 3 S. 1 ZPO) verspätet ein. Nach Eingang der Einspruchsbegründung bestimmt das Gericht den Termin zur mündlichen Verhandlung über den Einspruch und die Hauptsache, unterläßt jedoch die Ladung des benannten Zeugen und weist das Vorbringen im Urteil gemäß §§ 340 Abs. 3, 296 Abs. 1 ZPO zurück. Dazu das BVerfG a.a.O.: “Es drängt sich indes ohne weitere Erwägungen auf, daß dieselbe Verzögerung auch dann eingetreten wäre, wenn die Bf. ihre Einspruchsbegründung rechtzeitig eingereicht hätte. Als diese verspätet beim AG einging, war noch kein Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt worden. Wäre die Einspruchsbegründung statt am Montag, den 6. 6. 1994, rechtzeitig am Donnerstag, den 2. 6. 1994, beim AG eingegangen, hätte dieses ausgehend von seiner Auffassung ebenfalls zunächst dem Kl. Gelegenheit zur Stellungnahme geben und danach gegebenenfalls die Zeugin laden müssen. Es bedarf keiner mit Unsicherheiten belasteten Erwägungen über hypothetische Verfahrensabläufe, um mit einem Blick festzustellen, daß die Verspätung nicht kausal für eine Verzögerung geworden ist. Die Zurückweisung des Vorbringens diente deshalb hier erkennbar nicht dem verfassungsrechtlich allein zulässigen Zweck, eine pflichtwidrige Verfahrensverzögerung abzuwehren”.

 

An der Ursächlichkeit fehlt es auch, wenn (vgl. Musielak/Huber a.a.O., § 296 Rn. 18)

 

- das Gericht die von einem einfachen Streitgenossen verspätet vorgebrachte Tatsache wegen rechtzeitigen Vorbringens eines anderen Streitgenossen ohnehin berücksichtigen muß (vgl. Brandenburgisches OLG NJW-RR 1998, 498);

 

- bei fristgerechtem Eingang des das verspätete Vorbringen enthaltenden Schriftsatzes ein Beweisbeschluß hätte ergehen müssen und der Rechtsstreit folglich nicht erledigt worden wäre (vgl. OLG Hamm NJW-RR 1995, 126);

 

- es um Verzögerungen geht, die einen Prozeßverlauf unabhängig davon beeinflussen, ob die Partei rechtzeitig oder verspätet vorgetragen hat, wenn also zB der verspätet benannte, gleichwohl aber ordnungsgemäß und rechtzeitig geladene Zeuge nicht erscheint (vgl. BGH NJW 1982, 2259; BGH NJW 1986, 2319; BGH NJW 1987, 1949). Zur Klarstellung: Anders liegen die Dinge natürlich, wenn der ausgebliebene Zeuge nicht mehr rechtzeitig geladen werden konnte, selbst wenn er vorher dem Prozeßbevollmächtigten sein Erscheinen zugesagt hatte (vgl. BGH NJW 1989, 719). In einem solchen Fall besteht ein Zusammenhang zwischen der infolge der Verspätung nicht erfolgten Ladung und dem die Verzögerung bewirkenden Nichterscheinen; auf die hypothetische Prüfung, ob der Zeuge einer rechtzeitigen gerichtlichen Ladung nachgekommen wäre, braucht sich das Gericht nicht einzulassen.

 

(3) Auch im frühen ersten Termin (§ 275 ZPO) ist nach h.M. die Zurückweisung verspäteten Vorbringens nach § 296 Abs. 1 ZPO (anders bei § 296 Abs. 2 ZPO, s. dazu u.) grundsätzlich zulässig (vgl. BGHZ 86, 31), da dieser Termin nach der Vereinfachungsnovelle als vollwertiger Verhandlungstermin anzusehen ist.

 

Die Anwendung der Präklusionsvorschriften im frühen ersten Termin ist jedoch rechtsmißbräuchlich, wenn es sich um einen Durchlauftermin handelt (vgl. BVerfG NJW 1992, 299). Dieser Begriff, der nicht ganz einheitlich verwendet wird, meint einen Termin, in dem von vornherein für die Verfahrensbeteiligten erkennbar eine abschließende streitige Verhandlung einschließlich Beweisaufnahme ausgeschlossen ist (vgl. BVerfGE 69, 126), was bezogen auf den Zeitpunkt der Terminsbestimmung beurteilt wird. Beispiele: Anberaumung einer Vielzahl von Sachen auf dieselbe Terminsstunde (Sammeltermine), z.B. mit Ladung auf 09.00 Uhr und dem Vermerk: “Sammelterminsende sp. 11.00 Uhr”; unzureichende Dauer der Verhandlung, z.B. vorgesehenen 10 Minuten bei komplizierten Sachverhalten wie Arzthaftung oder einem komplizierten Bauprozeß; Ablauf der Klageerwiderungsfrist kurz vor dem Termin, weil das Gericht dadurch zu erkennen gibt, daß es vorbereitende Maßnahmen nicht mehr treffen will; Aufforderung an die Parteien bei der Klagezustellung, einen Sachverständigen vorzuschlagen (§ 404 Abs. 3 ZPO) oder zum Vorschlag des Gegners Stellung zu nehmen (vgl. Musielak/Huber a.a.O., § 296 Rn. 20).

 

 

d) Entschuldigung der Verspätung

 

Weitere Voraussetzung einer Präklusion nach § 296 Abs. 1 ZPO ist das Verschulden der Partei oder ihres gesetzlichen Vertreters bzw. Prozeßbevollmächtigten (§§ 51 Abs. 2, 85 Abs. 2 ZPO) an der Fristversäumung. Es genügt – anders als bei § 296 Abs. 2 ZPO – leichte Fahrlässigkeit, die vermutet wird. Die Partei kann sich aber entschuldigen, allerdings nur sofort, d.h. in dem Schriftsatz, der den verspäteten Vortrag enthält, spätestens in der nächsten mündlichen Verhandlung. Die Entschuldigungsgründe sind auf Verlangen glaubhaft zu machen, §§ 296 Abs. 4, 294 ZPO; eine Zurückweisung wegen fehlender Glaubhaftmachung ist folglich unzulässig, falls letztere nicht verlangt war (vgl. Brandenburgisches OLG NJW-RR 1998, 498). Entschieden wird aufgrund freier Überzeugung unter Berücksichtigung der zur Entschuldigung beigebrachten präsenten Beweismittel (§ 294 Abs. 2 ZPO).

 

Bei genügender Entschuldigung muß das nicht fristgerechte Angriffs- oder Verteidigungsmittel trotz der dann eintretenden Verzögerung zugelassen werden. Ob die Partei die ihr zumutbare Sorgfalt hat walten lassen, wird wie bei der Wiedereinsetzung (§§ 233 ff. ZPO) geprüft. Es kommt darauf an, ob sie nach ihren persönlichen Fähigkeiten die Verspätung hätte vermeiden können; das ist z.B. zu verneinen, wenn ihr die Tatsache oder das Beweismittel nicht rechtzeitig bekannt geworden war (vgl. BGH NJW 1988, 60) oder sich ihr mit der Sache vertrauter Anwalt im Urlaub befand und daher nicht rechtzeitig beauftragt werden konnte (vgl. OLG Köln NJW 1980, 2421). Hat der Prozeßbevollmächtigte die Frist versäumt, so wird auf die für einen Anwalt übliche Sorgfalt abgestellt. Der Entschuldigungsgrund kann aber auch offensichtlich sein, z.B. wenn das Gericht jetzt feststellt, daß ein erteilter Hinweis mißverständlich oder zu knapp vor dem nächsten Verhandlungstermin erteilt (vgl. OLG Celle NJW-RR 1998, 499: 20 Tage vor dem Termin) oder eine Frist zu kurz bemessen war (vgl. Musielak/Huber a.a.O., § 296 Rn. 25).

 

 

2. § 296 Abs. 2 ZPO: Angriffs- oder Verteidigungsmittel unter Verletzung der allgemeinen Prozeßförderungspflicht (§ 282 ZPO)

 

§ 296 Abs. 2 ZPO erfaßt Angriffs- und Verteidigungsmittel, die noch vor Schluß der mündlichen Verhandlung ohne Fristsetzung, jedoch unter Verletzung der allgemeinen Prozeßförderungspflicht nicht rechtzeitig vorgebracht und mitgeteilt wurden. Sie können zurückgewiesen werden, wenn ihre Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde  und die Verspätung auf grober Nachlässigkeit beruht. Die Zurückweisung steht – anders als bei § 296 Abs. 1 ZPO – im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts (vgl. BGH NJW 1981, 1218). Die betroffene Partei kann allerdings mit prozeßtaktischen Mitteln versuchen, den drohenden Folgen einer Präklusion zu entgehen. Die folgenden Erörterungen behandeln nur die Besonderheiten gegenüber § 296 Abs. 1 ZPO.

 

Innerhalb von § 296 Abs. 2 ZPO sind zwei Gruppen des § 282 ZPO zu unterscheiden:

 

- Aus § 282 Abs. 1 ZPO folgt, ob Angriffs- und Verteidigungsmittel in der mündlichen Verhandlung rechtzeitig vorgebracht wurden. Die Vorschrift hat für den frühen ersten Termin keine Bedeutung; Vorbringen in der mündlichen Verhandlung kann wegen § 128 Abs. 1 nicht früher erfolgen als im frühen ersten Termin (vgl. BGH NJW 1993, 1926; BGH NJW 1992, 1965; s.u.).

 

- Nach § 282 Abs. 2 ZPO wird beurteilt, ob Angriffs- und Verteidigungsmittel vor der mündlichen Verhandlung rechtzeitig mitgeteilt wurden. Die Vorschrift kommt unter anderem bei der Mißachtung von nicht unter § 296 Abs. 1 ZPO fallenden Fristen und für den zu Sachanträgen nachgeschobenen Tatsachenvortrag in Betracht (vgl. Musielak/Huber a.a.O.,
§ 296 Rn. 27).

 

 

a) Verletzung der allgemeinen Prozeßförderungspflicht

 

aa) § 282 Abs. 1 ZPO

 

Nach § 282 Abs. 1 ZPO, auf den § 296 Abs. 2 ZPO verweist, hat jede Partei in der mündlichen Verhandlung ihre Angriffs– und Verteidigungsmittel, insbesondere Behauptungen, Bestreiten, Einwendungen, Einreden, Beweismittel und Beweiseinreden, so zeitig vorzubringen, wie es nach der Prozeßlage einer sorgfältigen und auf Förderung des Verfahrens bedachten Prozeßführung entspricht.

 

Der Zeitpunkt, zu dem das Angriffs- bzw. Verteidigungsmittel vorgebracht werden muß, richtet sich also nach der Prozeßlage, dh. nach dem bisherigen Vorbringen des Gegners, aber auch nach Hinweisen bzw. Fragen des Gerichts und dem Verlauf einer etwa schon früher begonnenen Verhandlung. Anlaß zur Verteidigung bietet nur Prozeßvorbringen des Gegners; Abs. 1 zwingt also nicht zu vorsorglicher Abwehr von Behauptungen, für die erst ein vor- oder außerprozessualer Anhalt besteht (vgl. BVerfG NJW 1991, 2775; Musielak/Foerste a.a.O.,
§ 282 Rn. 3).

 

Vorbringen im ersten Termin kann nie verspätet i.S.v. § 282 Abs. 1 ZPO sein:
§ 282 Abs. 1 ZPO betrifft nur das rechtzeitige Vorbringen “in der mündlichen Verhandlung”. Insoweit ist der erste Termin vor Gericht der frühestmögliche in Betracht kommende Zeitpunkt. Daraus folgert die h. M. (vgl. BGH NJW 1987, 260; BGH NJW 1992, 1965), daß § 282 Abs. 1 ZPO nur dort einen Anwendungsbereich hat, wo innerhalb der Instanz mehrere Verhandlungstermine stattgefunden haben und das Vorbringen nicht bereits im ersten Termin erfolgt ist.

 

Die prozeßtaktische Zurückhaltung bestimmten Vorbringens wird von der höchstrichterlichen Rspr. wohl eher für unzulässig gehalten (vgl. BGHZ 91, 293; großzügiger BVerfGE 54, 117). Vgl. im übrigen die Kommentierung zu § 282 ZPO bei T/P.

 

bb) § 282 Abs. 2 ZPO

 

Nach dieser Vorschrift sind Anträge sowie Angriffs- und Verteidigungsmittel, auf die der Gegner voraussichtlich ohne vorhergehende Erkundigung keine Erklärung abgeben kann, vor der mündlichen Verhandlung durch vorbereitenden Schriftsatz so zeitig mitzuteilen, daß der Gegner die erforderliche Erkundigung noch einzuziehen vermag.

 

Die danach bestehende besondere Prozeßförderungspflicht, durch Schriftsatz fristgerecht und der Prozeßlage entsprechend vorzutragen, entsteht nur bei gerichtlicher Aufforderung (z.B. zur Klageerwiderung). Um das rechtliche Gehör des Gegners zu wahren, verpflichtet § 282 Abs. 2 ZPO die Partei zusätzlich, Anträge und Vorbringen, das den Gegner voraussichtlich zu Erkundigungen zwingt, entsprechend frühzeitig mitzuteilen. Da dies durch vorbereitenden Schriftsatz erfolgen soll, gilt Abs. 2 nur im Anwaltsprozeß, es sei denn, daß im Parteiprozeß eine Anordnung gemäß § 129 Abs. 2 ZPO ergangen ist (vgl. BVerfG NJW 1993, 1319).

 

Rechtzeitig ist ein Schriftsatz, der dem Gegner angemessene Zeit zur Erkundigung und auch (über den Wortlaut hinaus) zu der etwa nötigen Stellungnahme beläßt. Dieser Zeitraum ist je nach Prozeß und Sachfrage individuell zu bemessen. Die benötigte Zeit kann die einwöchige Schriftsatzfrist (§ 132 Abs. 1 ZPO: “mindestens”) überschreiten und durchaus zwei Wochen betragen; dann muß der Schriftsatz bei Gericht drei Wochen vor dem Termin eingehen (vgl. BGH NJW 1982, 1533: § 274 Abs. 3 Satz 1 ZPO analog). Umgekehrt muß eine Verfehlung der Schriftsatzfrist nicht auch § 282 Abs. 2 ZPO verletzen (vgl. BGH NJW 1989, 716; Musielak/Foerste a.a.O., § 282 Rn. 9).

 

 

b) Verschulden

 

Das Verschulden nach § 296 Abs. 2 ZPO setzt – anders als bei § 296 Abs. 1 ZPO –  grobe Nachlässigkeit, d.h. eine Vernachlässigung der Prozeßförderungspflicht in besonders hohem Maße voraus. Die Partei muß sich ausnehmend sorglos verhalten und unterlassen haben, was jeder anderen in der konkreten Verfahrenslage als notwendig eingeleuchtet hätte (vgl. BGH NJW 1997, 2244). Beispiele: Urlaubsreise während des Prozesses mit auch für den Prozeßbevollmächtigten unbekanntem Ziel und ohne zureichende Information zum Rechtsstreit; bewußtes Zurückhalten eines Zeugen im später enttäuschten Vertrauen darauf, der Benannte werde das Beweisthema bestätigen (vgl. Musielak/Huber a.a.O., § 296 Rn. 28).

 

Die grobe Nachlässigkeit wird nicht - wie das Verschulden bei § 296 Abs. 1 ZPO - vermutet. Der Richter muß der Partei Gelegenheit geben, die gegen sie sprechenden Umstände zu entkräften und dafür unter Umständen eine kurze Frist gewähren, auch zur Nachbesserung, falls er schon vorgebrachte Gründe für unzureichend hält, worauf hinzuweisen ist. Bei der Entscheidung berücksichtigt das Gericht aufgrund des ihm eingeräumten Ermessens den Grad der Nachlässigkeit, die Bedeutung des Rechtsstreits und den Umfang der drohenden Verzögerung. Bei einer Zurückweisung müssen die Entscheidungsgründe die maßgeblichen Erwägungen enthalten. Kann keine grobe Nachlässigkeit festgestellt werden, so ist das verspätet vorgebrachte Angriffs- oder Verteidigungsmittel trotz der dann eintretenden Verzögerung zuzulassen (vgl. Musielak/Huber a.a.O., § 296 Rn. 29).

 

 

IV. Prozeßtaktische Maßnahmen

 

Erkennt der Anwalt die drohende Zurückweisung seines verspäteten Vorbringens – sei es von sich aus, etwa in den Fällen des § 296 Abs. 1 ZPO, in denen die Fristversäumung meist unzweifelhaft ist, oder sei es infolge eines Hinweises des Gegners oder des ohnehin insoweit hinweispflichtigen Gerichts – hat er neben der Möglichkeit einer Entschuldigung der Säumnis auch prozeßtaktische “Fluchtwege” zu prüfen, um eine Zurückweisung zu vermeiden. Die Zurückweisung führt wegen § 528 Abs. 3 ZPO, wenn sie zu recht erfolgt, zum endgültigen Verlust des Angriffs- oder Verteidigungsmittels für alle Instanzen. Für den Anwalt gehört die Prüfung derartiger Fluchtwege daher zu den ihm obliegenden Sorgfaltspflichten; er muß seine Partei entsprechend beraten und die Vorteile, aber auch die Nachteile eines Auswegs aufzeigen (vgl. Musielak/Huber a.a.O., § 296 Rn. 37).

 

Solche Fluchtwege sind insbesondere:

 

- die Flucht in die Säumnis,

- die Flucht in die Klageerweiterung oder Widerklage,

- die Flucht in die Berufung.

 

 

1. Die Flucht in die Säumnis

 

Die Gefahr der Zurückweisung verspäteten Vorbringens kann jedenfalls zunächst abgewendet werden, wenn die davon betroffene Partei im Termin nicht erscheint oder nicht verhandelt (§ 333 ZPO) und Versäumnisurteil gegen sich ergehen läßt. Die Partei kann dann die Zustellung dieses Versäumnisurteils abwarten und ihre Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit dem Einspruch vortragen (§ 340 Abs. 3 ZPO). Die zunächst verpaßte Frist für das Angriffs- oder Verteidigungsmittel bleibt zwar versäumt. Das Gericht wird den so nachgeschobenen Tatsachenvortrag aber berücksichtigen müssen, da es bei Eingang des die Angriffs- bzw. Verteidigungsmittel enthaltenden Einspruchsschriftsatzes die Sache terminieren muß (§ 341a ZPO) und im Rahmen seiner umfassenden Vorbereitungspflicht eine nunmehr notwendig werdende Beweisaufnahme in der Regel vorbereiten und dann im Einspruchstermin erledigen können wird, so daß trotz der Fristversäumung keine Verzögerung des Rechtsstreits eintritt.

 

Allerdings ist die Gefahr der Zurückweisung nicht endgültig beseitigt, falls ein weiterer Termin nötig wird. Die Partei muß bei einem solchen Vorgehen außerdem Nachteile hinnehmen:

 

- sie trägt, auch wenn sie später obsiegt, die Kosten ihrer Säumnis (§ 344 ZPO);

 

- sie ist der Vollstreckung aus dem Versäumnisurteil ausgesetzt (§ 708 Nr. 2 ZPO), die sie grundsätzlich nur gegen Sicherheitsleistung einstweilen einstellen lassen kann (§ 719 Abs. 1 S. 2 ZPO).

 

 

2. Die Flucht in die Klageerweiterung oder Widerklage

 

Die Parteien können die Berücksichtigung verspäteten Vorbringens zur Klage bzw. zum Klageabweisungsantrag erzwingen, wenn sie es mit einer Klageerweiterung bzw. einer Widerklage (oder deren Erweiterung) verbinden . Klageerweiterung und Widerklage sind keine Angriffs- oder Verteidigungsmittel, sondern stellen den Angriff oder die Verteidigung selbst dar (s.o. III 1 a; vgl. T/P 146/2) und können daher bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung erhoben werden. Einer Präklusion im Wege eines Teilurteils würde entgegenstehen, daß die Zurückweisung die Entscheidungsreife des ganzen Rechtsstreits voraussetzt (s.o. III 1 c bb). Das ist auch richtig, weil das Gericht sonst dasselbe Vorbringen einmal als verspätet zurückweisen (z.B. als Grundlage des Klageabweisungsantrages) und das andere Mal zulassen (z.B. als Grundlage der Widerklage) müßte (vgl. Musielak/Huber a.a.O.,
§ 296 Rn. 39).

 

Soweit tatsächlich durchsetzbare Ansprüche bestehen, die der Klageerweiterung oder Widerklage zugrundegelegt werden können, handelt es sich folglich um einen sicheren Fluchtweg, der sich für die beklagte Partei vor allem anstelle einer (hilfsweisen) Prozeßaufrechnung empfiehlt (vgl. Musielak/Huber a.a.O., § 296 Rn. 39). Bestehen solche Ansprüche nicht, droht als Nachteil natürlich der teilweise Verlust des Prozesses.

 

 

3. Die Flucht in die Berufung

 

Die Partei kann in Anbetracht einer drohenden Zurückweisung den Vortrag der  neuen Angriffs- oder Verteidigungsmittel in der Instanz auch schlicht unterlassen. Sie wird den Rechtsstreit in der ersten Instanz dann zwar, soweit die Angriffs- oder Verteidigungsmittel relevant sind, verlieren (Nachteile: Kosten, vorläufig vollstreckbares Urteil). Sie kann aber die auf diese Weise in der ersten Instanz zurückgehaltenen Angriffs- oder Verteidigungsmittel in der Berufungsbegründungsschrift vortragen. Das Berufungsgericht darf sie dann nicht nach § 528 Abs. 3 ZPO unberücksichtigt lassen, weil § 296 Abs. 1 ZPO im vorangegangenen Rechtszug gerade nicht angewendet wurde. Allerdings kommt ggf. eine Zurückweisung nach § 528 Abs. 1 oder 2 ZPO in Betracht. Die Gefahr der Präklusion kann folglich nicht endgültig ausgeschlossen werden (vgl. Musielak/Huber a.a.O., § 296 Rn. 40).

 

Die Nachteile gegenüber der Flucht in die Säumnis liegen vornehmlich in deutlich höheren Kosten, einer längeren Prozeßdauer und dem Verlust einer Instanz. Der Vorteil gegenüber der Flucht in die Säumnis besteht in einem größeren Zeitgewinn. Zudem mag für die Partei eine Flucht in die Säumnis auch nicht in Betracht kommen, etwa, weil sie diese bereits erfolglos angetreten hat, die erforderlichen Informationen von ihrem Mandanten noch nicht erhalten hat und nunmehr der Erlaß des zweiten Versäumnisurteils droht.

 

 

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